Ostseewellen? Nordseewellen?
Maik Brandenburg erinnert an die Reisen eines bekannten Liedes und an seine Schöpferin
Martha Müller-Grählert

Das Lied „Mine Heimat“, das mit den Zeilen „Wo de Ostseewellen trecken an den Strand“ beginnt, kennt an der Küste jedes Kind. In der Mongolei, so heißt es, würden die Kinder eher reiten als gehen lernen. An der Ostsee ist es noch verrückter, hier lernen sie das Lied sogar bevor sie reiten können. Es hat eine sanfte, wiegende Melodie, man kann sich die  Wellen, die langsam heranrollen und auf den Strand treffen, gut vorstellen. Das Wort „trecken“ heißt übrigens so viel wie „ziehen“, weshalb hier ein Traktor stets ein „Trecker“ ist. So ein Zusammenhang ist ja nicht jedem klar, von nun an aber dürften Sie mit diesem Premiumfakt bei jedem Smalltalk punkten. Vergessen Sie nur nicht zu erwähnen, von wem Sie das haben.

MüllerGrählertMartha (Quelle: wikipedia)

Die Dichterin des „Ostseewellenliedes“, wie es ebenfalls genannt wird, ist Martha Müller-Grählert, geboren in Barth bei Rostock, beerdigt in Zingst. Ein Glaser aus Flensburg brachte die Zeilen in die Schweiz, wo ein gebürtiger Thüringer sie vertonte. Das Lied war sozusagen schon in der Wiege international: Von der Schweiz aus trat es seinen Siegeszug um die Welt an. Die Formulierung klingt platt, aber platt ist das Lied ja sowieso, bester vorpommerscher Schnack.

Außerdem stimmt es: Gesungen wird das Lied heute in den Niederlanden, in England, Spanien, Kanada, Australien, Brasilien, möglicherweise auch in Afrika, ich werde meine Ohren offenhalten. In Frankreich singen sie von „Les Flots du Nord“, in Dänemark steigen sie ein mit „Der, hvor nordsøbølger ruller ind mod land“. In Südtirol, wo es auf sogar ladinisch über die Bergweiden hallt, kämmt der Wind die Wiesen, was jeden, der das gesehen hat, ohne weiteres an Wellen erinnern wird. Gut möglich, dass es auch eine japanische Version des „Ostseewellenliedes“ gibt, einige Jahre lebte Martha Müller-Grählert in Sapporo. Eine Fassung existiert aus dem KZ Eschwegen, “Wo das Lager steht so dicht am Waldesrand“.

Die Insassen, die „Moorsoldaten“, sangen es heimlich nach der Melodie des „Friesenliedes“. Als solches, nicht als „Ostseewellenlied“, ist es berühmt. Zu spät hatte sich die Dichterin um ihre Urheberrechte gekümmert. Abgeräumt hatte ein anderer, ein Niedersachse, der das Stück möglicherweise bei einem Kuraufenthalt in der Schweiz hörte, um es dann als friesisches Heimatlied zu drucken, es populär und sich selbst reich zu machen. Auch das ebenso bekannte „An der Nordseeküste“ ist kein eingeborener Song des Volkskunstduos Klaus&Klaus, obwohl es inzwischen wirkt, als sei er irgendwann aus dem friesischem Schlick gespült worden. Es ist in Wahrheit ein irischer Shanty! Guckt denen da oben denn keiner auf die Finger? Das „Friesenlied“ ist weiträumig lizenziert, auch die USA zahlen GEMA-Gebühren. Ich will jetzt keine alten Geschichten aufrühren, aber dieses Lied haben wir Ossis in die deutsche Einheit gebracht. Wenn wir es mit dem Solidaritätszuschlag verrechnen, sind wir quitt.

Ich habe das Grab Martha Müller-Grählerts in Zingst besucht und Blumen niedergelegt, keinen „gelen Ginster“, sondern Rosen. Vor allem, um dieser bemerkenswerten Frau zu gedenken, die arm und fast vergessen in einem Altenheim starb. Aber auch, weil Martha Müller-Grählert und ich Geschwister im Geiste sind, wir teilen ein ähnliches Künstlerschicksal. Denn auch ich verfasse Songtexte. Auch ich habe Hits geschrieben, die um die Welt gehen – in Thailand, auf den Philippinen, in Indonesien, Russland, Kuba, Botswana waren sie schon zu hören, in China, auf den Fidschis, in Japan, von Europa rede ich gar nicht. Sogar auf den fernen Marshallinseln im Pazifik und auf Guam. Ich musste meine Lieder dort zwar bislang stets alleine singen, aber was zählt, ist ja die Qualität. Auch ich habe, wie die große Vorpommerin, kaum einen Cent dafür gesehen.

Oder heißt es „Vorpommeranerin“? In diesem Jahr (Karl: 2016) wäre das One-Hit-Wonder Martha Müller-Grählert 140 Jahre alt geworden. Zeit, das Lied der Vorpommerschen jeden Tag anzustimmen. Oder wenigstens zu summen. In Friesland und Umgebung aber sollten sie endlich die Gelegenheit nutzen und sich zur wahren Historie von „Mine Heimat“ bekennen. Falls das zu hart ist, könnten sie dort gern ein Lied gern ein Lied von mir singen, wäre auch okay.

www.mare.de