Am Anfang war das Volkslied

Wenn wir die Formen populärer Lieder in unserem Kulturkreis vergleichen, dann sehen sie sich verblüffend ähnlich. Egal, ob es sich um Schlager handelt oder Chanson, Kinder- oder Kirchenlieder, Rock oder Pop. Bestimmte Formen und Melodien gehen leichter ins Ohr als andere. Es sind die Formen, die im weitesten Sinne auf unsere Volkslieder zurückgehen – angereichert durch die Volksliedformen, die einwanderten oder mitgebracht wurden.

Volkslieder kommen aus dem kollektiven Gedächtnis. Niemand schreibt sie. Zumindest weiß niemand mehr, wer sie geschrieben hat. Generationen hinterlassen ihre Spuren in ihnen. Gemeinsam haben sie eines: sie „singen sich von selbst“. Intuitiv kennt man sie – auch wenn man sie nicht kennt. Das macht auch die musikalische Qualität eines Ohrwurms aus.

Die Bezeichnung Volkslied verdanken wir Johann Gottfried Herder, der 1773 den englischen Begriff „popular song“ einfach wörtlich übersetzte. Damit schuf er einen Oberbegriff, der bis dahin gängige Bezeichnungen wie Straßenlied, Gassenhauer oder Bergreihen (kommt von: Reigen) zusammenfasste. Volkslied bezeichnete also keine neue Sache, sondern schuf nur eine Kategorie. Gleichzeitig formulierte sich damit eine positive Wertung für etwas, dem es bisher an Anerkennung und Respekt gefehlt hatte – etwas das eben nicht Individual- oder Gelehrtenpoesie war. Mit dem Begriff Volkslied wurde dem Kulturgut der einfachen Menschen Achtung erwiesen, eine Existenzberechtigung erteilt. Wie viele andere gute und eingängige Begriffe fand „Volkslied“ schnell seinen Weg in den allgemeinen Sprachgebrauch.

Der Ausgangsbegriff popular song heißt heute im Englischen etwas anderes – verkürzt auf Popsong versteht man darunter aktuelle Lieder, die ein breites Publikum ansprechen.

Was bei uns Volksmusik genannt wird, heißt im Englischen Traditional Song oder Folk Song. Ersteres betont den historischen Aspekt, letzteres die Verbreitung. Diese Trennung finden wir auch in anderen Sprachen. Im Spanischen sind es z.B. cancion tradicional und cancion popular. Im Deutschen ist Volksmusik ein eher verschwommener Begriff. Er überschneidet sich mit der volkstümlichen Musik und diese wiederum mit dem volkstümlichen Schlager. Was regelmäßig bei den Anhängern der historischen Volksliedkultur zu lautstarkem Protest führt. Denn mit „gemachten“ Liedern wollen sie keinesfalls in einen Topf geworfen werden.

Das Volkslied ist immer Ausdruck einer bestimmten Lebenssituation. Wir finden Trink-, Liebes-, Abschieds-, Soldaten-, Studentenlieder und viele mehr. Auch Lieder zu den Jahreszeiten, kirchlichen Festen und berufsständische Lieder machen einen großen Anteil aus. Das Themenspektrum ist erhalten geblieben, hat sich aber in Richtung Individualgeschichte verschoben. Die Lieder mit typischem Wir-Charakter sind selten geworden.

 

In der Definition von Johann Gottfried Herder zeichnet sich das Volkslied durch Natürlichkeit und Einfachheit aus:

  • Schlichte Formen und ruhige Rhythmen
  • Leicht zu singen (einfache Intervalle)
  • Übersichtliche Gliederung – erkennbar an den gereimten Textteilen.

Dem entsprach die Realität des Volkslieds schon zu Herders Zeiten nur bedingt. Herders idealtypische Charakterisierung des Volksliedes beeinflusste aber die Komponisten seitdem. So entstanden Kunstlieder, die sich volksliedhaft gaben, z.B. Sah ein Knab ein Röslein stehn, das Abendlied (Der Mond ist aufgegangen) oder die Loreley (nach der Ballade von Heinrich Heine). Vom „echten“ Volkslied unterschieden sie sich durch eine künstlerisch ausgefeilte Form und stringent durchdachte Inhalte. Sie verbreiteten sich aber wie Volkslieder und wurden genauso populär. Man könnte auch sagen, dass die Prinzipien des Hit-Schreibens hier frühe Anwendung erfuhren.

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