Provokation und Tabubruch als Strategie
(zu Buchseite 33)

Sex mit Hitler (Heinz Rudolf Kunze)

Eine (aus heutiger Sicht geradezu unschuldige) Provokation war das legendäre Da-Da-Da der Gruppe Trio – ein offenkundig blöd-sinniger Text von drei offenkundig intelligenten Jungs. Man kann sich heute kaum noch vorstellen, wie viele selbst ernannte Kulturwächter (und Scharen älterer Deutschlehrer) sich 1982 darüber echauffierten, dass sich so etwas „Text“ nannte (wofür sie ihrerseits belächelt wurden). Denn viele andere genossen den minimalistischen Streich. Der sich leider nicht reproduzieren ließ.

Derart harmlose Spielereien richten außer einem bisschen Aufregung wenig an. Deutlich rabiater zur Sache ging im selben Jahr der NDW-Sänger Markus mit Ich will Spaß (Ich geb Gas) – das war ein rotzfreches Bekenntnis zum Straßenrowdytum. Dem Text mochte man mit viel gutem Willen Ironie bescheinigen, aber aus der Musik spricht die pure, ungebremste Lust. Da lässt sich nachfühlen, wie Lehrer und Eltern um den Bestand ihrer pädagogischen Absichten fürchteten. Und dass halbwüchsige Jungs mit diesem Lied fröhlich dagegenhielten. Pech nur, wenn Papi dann die Autoschlüssel doch lieber unter Verschluss hielt anstatt dem Sprössling die Familienkutsche anzuvertrauen. 2008 zog der Pfarrer und Liedermacher Clemens Bittlinger sich mit dem Song Mensch Benedikt Morddrohungen zu und durfte in katholischen Kirchen nicht mehr auftreten. Dabei hatte er nur ein paar Fragen in ein Lied gefasst, die viele Christen sich stellen.

Eine Provokation kann enorme Wirkung entfalten, wenn sie mit der stillschweigenden Vereinbarung bricht, welche Geschichten man „erzählen darf“ und an welchen man sich die Finger verbrennt. Das kann so weit gehen, dass Titel beim Rundfunk auf den Index gesetzt werden. Was sich meist herumspricht und den Titel erst recht interessant macht. Ein solcher Titel war Jeanny von Falco (1986). Er kann als Schilderung einer Vergewaltigung / eines Sexualmordes interpretiert werden. Und zwar – das ist das Makabre – aus Tätersicht. Falco selbst hat dies nie bestätigt, auch das dazugehörige Musikvideo lässt zumindest einen anderen Ausgang offen. Musiksender schwankten zwischen Boykott des Songs und Sendung zumindest in den Hitparaden, in denen er immerhin Spitzenplätze belegte. Jeanny war einer der größten Skandale in der Popmusik. Die anhaltende Wirkung hatte aber auch entscheidend mit dem Interpreten zu tun: Falco – Exot und Enfant terrible – pflegte schon vorher die Provokation als Kunstform. Das verhinderte zumindest, dass dieses Lied als Plädoyer für den geschilderten Sachverhalt angesehen wurde. Die Debatte ging vielmehr darum, ob dieses Thema in  einer solchen Form ausgeschlachtet werden dürfe und auch – bis heute noch – ob man mit solchen Liedern die geheimen Phantasien kranker Gemüter bedient und kriminelle Potenziale weckt.

Der Versuch, aus brisanten Themen Stoff für Songs zu gewinnen, kann auch nach hinten losgehen. Nach der Flucht von Natascha Kampusch aus achtjähriger Gefangenschaft versuchten die Swiss Tenors 2006 mit einer umgetexteten Version von Jeanny (Titel: Natascha) an Falcos Erfolg anzuknüpfen. Damit sollte – wie es hieß – die Öffentlichkeit sensibilisiert werden – ein Argument, das auch Falco bereits für Jeanny ins Feld geführt hatte. Während jedoch Jeanny eine Kunstfigur gewesen war, ging es hier um eine junge Frau mit Namen und Gesicht und viel zu viel Medienrummel. Das Lied wurde als Versuch interpretiert, aus deren Leidensgeschichte Kapital zu schlagen. Die Wahl von – ausgerechnet – Jeanny als Vorlage war zudem ein denkbarer Missgriff. Praktisch alle Radiostationen boykottierten den Song, sogar Veranstalter luden die Musiker aus. Diese Provokation hatte den Bogen überspannt.

Tabus kann man auch brechen, indem man „böse Wörter“ benutzt. Ein Verhalten, das im kindlichen Trotzalter und später wieder in der Pubertät den Machtkampf mit den Eltern und Erziehern markiert. Oder auch den mit der etablierten Gesellschaft als solcher. Wobei sich ständig wandelt, was man sagen darf und worüber sich überhaupt noch jemand aufregt. Gar nicht ewig lange her, da zuckten Eltern und Lehrer zusammen, wenn das Wort „geil“ fiel. Inzwischen springt es uns von Plakaten entgegen, und selbst Oma bringt es locker über die Lippen. Heute müssen schon größere Geschütze her, wenn man da draußen jemanden ärgern will. War es 2001 noch die Band Sofaplanet mit dem Titel Liebficken, der Rufe nach Sendeverbot laut werden ließ, haben Bushido oder Lady Bitch Ray nur wenige Jahre später ganz andere Schauplätze eröffnet.

Die Literatur zieht mit. Das Buch Feuchtgebiete von Charlotte Roche stürmte 2008 die Bestsellerlisten und wurde sogar zum Theaterstück umgearbeitet. Die Autorin bricht mit einem der letzten Tabus – der Faszination des Ekels und dessen Sexualisierung. Da das Sortiment der „schlimmen Wörter“ sich abnutzt und nicht beliebig erweitern lässt, ist solchen Tendenzen eine eher begrenzte Lebensdauer beschieden.

Das Feld der politischen Brandstiftung nutzt sich leider nicht ab. Hier können wir nur ganz altmodisch an Ihr Verantwortungsgefühl appellieren: Überlegen Sie lieber zweimal zu viel als einmal zu wenig, ob Sie Wasser auf die falschen Mühlen gießen und ob Sie – und sei es ungewollt – Leuten in die Hände spielen, deren Haltung Sie nicht unterstützen wollen. Was immer sich missbrauchen lässt, wird eines Tages missbraucht, sofern es bekannt genug geworden ist. Man kann sich darüber streiten, ob Liederschreiber eine Verantwortung haben.
Wir sagen Ihnen: Ja. Sie haben eine.

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Eine Antwort auf „Provokation und Tabubruch als Strategie
(zu Buchseite 33)“

  1. Sehr geehrte Frau Jeske,

    ich bekam heute per Post Ihr „Handbuch für Songtexter“ und bin gleich auf Seite 34 auf eine ganz entscheidende Idee gestoßen. Respekt! Der Kauf hat sich jetzt schon weit mehr gelohnt, als die der Bücher von Masen Abou-Daken. Ich bin gespannt, wohin Sie mich führen werden.

    Dennoch möchte ich gerne streiten: Natürlich habe ich eine Verantwortung für das, was ich schreibe. Aber sie endet, denke ich, dort, wo jemand meinen Text vergewaltigt. Dafür kann ich nichts … und ich kann unmöglich schreiben, wenn ich ständig daran denken muss, dass mein Text vergewaltigt werden könnte. Eine Dame, die sich hübsch macht und schminkt, ist deshalb nicht verantwortlich, falls sie missbraucht wird.

    Ich hadere ein wenig mit Ihrer Aussage, man müsse sich stets am Zeitgeist orientieren. Ich denke, es gibt eine Verantwortung, das Gegenteil zu tun: Fragen stellen. Ich misstraue jedem, der Antworten gibt.

    Ein Freund von mir schreibt Jerry Cotton Romane am Fließband. Er schreibt jede Woche einen solchen Roman und ich habe größten Respekt vor seiner Professionalität. Ein Handwerker. Ich selbst schreibe Romane und kurze Geschichten und bin bestenfalls mäßig erfolgreich, zugegeben. Das ist ein wenig unprofessionell. Ich habe nie gelernt, „cosy“ zu schreiben, wie es verlangt wird. Jetzt, in der Corona-Klausur, nutze ich die Zeit, meine Leidenschaft für Musik und Texte auszuleben (ich spiele Bass, doch alleine geht das schlecht). Und schon wieder verlangt man von mir, dem Zeitgeist zu folgen!

    Bitte schieben Sie das auf meine Lust am Widerspruch, denn andererseits verstehe ich vollkommen, warum Sie das so deutlich machen. Ich kann also darüber hinweg sehen, falls notwendig.

    mit freundlichem Gruß

    Stefan Nölke

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