„Zugroulette“ (Duo Sonnenschirm)
eine subversive Moritat

Ein Hitchcock in 6:30 Minuten.
Gleichzeitig eine Übung für Sie, anhand derer Sie überprüfen können, wir gut Sie den Stoff dieses Buches gelernt und verarbeitet haben.

„Zugroulette“ ist ein älteres Lied, ein Hit unter Eingeweihten – die Charts hat es nicht gesehen. Zeigen lässt sich aber daran, was die deutsche Sprache kann, wenn jemand die Mittel beherrscht und das Beste aus ihr herausholt.
Für uns ist Zugroulette eines der handwerklich perfektesten Lieder und spannendsten Geschichten, die es nur gibt. Auf jeden Fall eines, in dem ausgereizt ist, was es an erzählerischen, dramaturgischen, phonetischen und psychologischen Möglichkeiten gibt.

Es erschien auf dem DDR-Label Amiga im Sommer 1989. Geschrieben haben es Dieter Beckert und Jürgen B. Wolff. Die Aufgaben zu diesem Text sind so gestaffelt, dass Sie sich bis in die Details vertiefen können. Aber auch wenn Sie sich nur die offensichtlichsten Handgriffe abschauen wollen, können Sie dies tun.

Es hilft, wenn Sie ein paar Dinge über Moritaten wissen.
Moritaten kann man als die gesungenen Vorläufer der BILD-Zeitung betrachten. Ebenso wie diese bringen sie spektakuläre und gern schaurige Geschichten in Umlauf. In Moritaten ist immer eindeutig geregelt, wer die Guten sind und wer die Bösen. Die Welt ist in schwarz und weiß aufgeteilt. Viele Moritaten haben zudem Rahmenstrophen. Vorneweg ein „Leute höret die Geschichte“ und am Ende die Moral von der Geschicht.  Die Sprache ist oft antiquiert und hat die typischen Satzverdreher.

Man kann das Moritatenprinzip formal erfüllen und Subversives im Schilde führen. Wie das geht, führt dieses Lied vor..

Zugroulette

Geldverdienen, bitte schön, doch wehe, wenn du nichts dafür tun musst.
Man sieht ja, dass der Ofen brennt, auch nur daran, dass die Esse rußt.
Und wenn in uns kein Feuer brennt, verraucht auch keine Wut.
Wenn jedoch die Wut verraucht, dann quillt der Übermut.
Das weiß am besten Sezuan,
der Streckenwart war bei der Eisenbahn.

Der Nebel steigt vom Schotter auf und Sezuan aufs Dienstfahrrad zur Schicht.
Sein Stellwerk steht auf freier Flur, salpeterwändig riecht es drin nach Pflicht.
Er schnauzt nach seinem Vorstehhund, der steht ihm in nichts nach,
und beißt ihm prompt den Daumen wund – so geht das jeden Tag
draußen auf dem Schienenstrang
im Stellwerk 13 bei der Eisenbahn.

Der Weichenhebel blinkert matt, poliert mit Bohnerwachs und 40 Watt.
Die blenden Meister Sezuan, der früh um acht schon Langeweile hat.
Jetzt kommt der Zug aus Halberstadt und dann der Zug nach Binz.
Die Fleppe hängt, sie fahrn vorbei, drin schwatzen Kunz und Hinz,
beachten nicht den Sezuan,
den Streckenwärter bei der Eisenbahn.

Er taucht den Sieder in den Topf exakt um acht Uhr neun zum Kräutertee.
Inzwischen nieselt’s, und vom Sitzen hinterm Schaltschrank tut ihm schon der Rücken weh.
Mählich tropft der Wasserhahn und ebenso die Zeit.
Sachte schläft der Fuß ihm ein, der Feierobnd ist weit.
Er fingert an dem Hebelarm
der Weiche 13 von der Eisenbahn.

Oha – da ist der Zug aus Schmölln nach Birmingham mit Zwischenhalt in Köln.
Es stinkt ihm, dass man nicht versteht, dass er da hätte auch mal hinfahrn wöll’n
So hockt er, der Geheimnisträger, trägt an seinem Frust.
Und plötzlich überkommt ihn wieder die perverse Lust
Er äugelt nach dem Streckenplan:
Zugroulette spieln mit der Eisenbahn.

Vergessen ist der Kräutertee, dem Sieder glüht die letzte Wendel aus.
Da surrt der Telegraph, und Meister Sezuan riecht einen Leichenschmaus.
„In zehn Minuten Sonderzug mit Panzern vom Ural!
Stoppen Sie den Gegenzug aus Oberwiesenthal!“
Da grinst der böse Sezuan,
der Satansbraten bei der Eisenbahn.

Nun eine Runde Zugroulette, in neun Minuten kommt der D-Zug an.
Der Panzerzug in zehn, mal sehn, ob sich der D-Zug selber retten kann.
Alle Signale grün gestellt,  das Schicksal wird bemüht
und die Scheibe blank geputzt, damit man auch was sieht.
So spielt der Meister Sezuan
Zugroulette mit der Eisenbahn.

Wenn der D-Zug pünktlich ist, dann hat er eine ganz reelle Chance.
Von weitem heult der Panzerzug schon, Sezuan denkt kribblig: „Vielleicht langt’s!“
Der Oberwiesenthaler kommt zwar jeden Tag zu spät.
Doch heute hat er Rückenwind – das heißt, wenn der nicht dreht.
Und dreht er, komm ich halt in’n Kahn –
besser noch als ewig bei der Eisenbahn.

Mit 130 rast der Ex, noch anderthalb Minuten bis zum Ziel.
Der Panzerzug rollt langsamer, denn fünfzig Panzer sind kein Pappenstiel.
Das Wetter hört zu nieseln auf, und die Sonne späht.
Ein Rabe plustert sich und sperrt den Schnabel auf und kräht.
Und Sezuan im Spielerwahn
starrt fasziniert auf seine Eisenbahn.

Von beiden Seiten rasen nun
die Züge einer auf den andern zu.
Der Streckenwart ist aufgeregt,
er fiebert, und die Socke kocht im Schuh…

Rien ne va plus ….

Die Züge rasen immer noch im Tempo unvermindert aufeinander los.
Ahnungslose Kinder winken, Sezuan, den würgt im Hals ein Kloß.
Der Ex erwischt die Weiche knapp vor dem Panzerzug,
und nur ein einsam‘ Panzerrohr ins letzte Fenster schlug
Erleichtert setzt sich Sezuan
auf seinen Inventarstuhl
bei der Eisenbahn.

Und Hinz und Kunz im Ex, die fläzten beide locker plaudernd im Coupé
und ahnten wie die tausend andern nichts  von dem gewagten Zugroulé.
Und wie der böse Sezuan sein Mütchen hat gekühlt,
so hat man auch mit unserm Leben schon Hasard gespielt.
Doch das Gute ist daran:
wir wissen’s nicht – wie bei der Eisenbahn.

(„Zugroulette“, Duo Sonnenschirm, Text: Dieter Beckert / Jürgen B. Wolff)
Wir danken herzlich für die Veröffentlichungegenehmigung dieses Titels, der zu unseren Lieblingssongs überhaupt zählt!

 

Und dann nehmen Sie sich den Text bitte unter folgenden Gesichtspunkten vor:

  • An welchen Stellen arbeitet er lautmalerisch? Das heißt: Wo klingen die Worte wie die Dinge, die sie beschreiben? Wo entsteht die Atmosphäre oder die Aussage auch durch den Klang?
    Wenn Sie besonders gründlich sein wollen:
    Ersetzen Sie Begriffe sinngemäß und vergleichen Sie die Wirkung:
    Beispiel:
    Der Nebel steigt vom Schotter auf
    Der Nebel steigt vom Bahngleis auf
    (sinngemäß bedeuten die Begriffe das Selbe. Wie unterscheidet sich die Wirkung?)
  • Wo setzen die Autoren Alliterationen ein? (Stabreime)
  • Wo benutzen die Autoren den Blick einer Kamera? Wie verändert dieser Blick sich (Totale, Zoom, Farbgebung?)
    Wie reagieren wir darauf? Hat es einen Einfluss auf unsere Gefühle Sezuan gegenüber?
  • Welche Sinne außer dem Gesichtssinn werden angesprochen? Wo riecht es, fühlt es sich an, schmeckt es etc.?
  • Wo geben uns die Autoren Wertungen vor, die offensichtlich vorgeschoben sind – sprich: wo wird im Namen des Alibis gelogen?
  • Wo und wie werden Requisiten eingeführt, die später Bedeutung erlangen? (Planting und Payoff)
  • An welchen Stellen wird das Moritatenprinzip subversiv unterlaufen?

 

 

Text

Sinn

Sprache

1. Strophe (Einleitung)

Geldverdienen, bitte schön, doch wehe, wenn du nichts dafür tun musst

übersetzt:
Der Mensch braucht eine Aufgabe

 

Man sieht ja, dass der Ofen brennt, auch nur daran, dass die Esse rußt.

Feuer (Leidenschaft) macht Dreck (= hat auch unschöne Nebenwirkungen)

Esse = Schornstein

Und wenn in uns kein Feuer brennt, verraucht auch keine Wut.

Ohne Leidenschaft wird der Mensch keinen Druck los

 

Wenn jedoch die Wut verraucht, dann quillt der Übermut.

Wenn er aber Druck los wird, kann er über die Stränge schlagen

quillt:
kommt aus den Ritzen, dehnt sich aus. Ein Teig z.B. quillt. Quellen tun Substanzen, die man nicht greifen oder festhalten kann, sie glubschen einem durch die Finger.

Unkontrollierter Übermut ist eine Bedrohung!

 

Daraus folgt formal logisch: Wenn der Mensch nicht über die Stränge schlagen soll, dann ist es besser, er entwickelt keine Leidenschaft. Da im System nicht erwünscht ist, dass der Bürger über die Stränge schlägt, ist es also gut, wenn – siehe oben – kein Feuer in ihm brennt. Dies widerspricht jeder Ideologie, die davon lebt, dass ihre Verfechter für sie brennen.

 

Das weiß am besten Sezuan,

Klingt zunächst, als wäre er der Beobachter eines Geschehens, das dieses Lied uns erzählen wird. Dass er der Täter ist, erfahren wir erst sehr viel später.

Sezuan: der gute Mensch von Sezuan: Stück von Brecht

„der gute Mensch“ wird sofort assoziiert. Selbst von Menschen, die nur den Titel kennen und nicht das Stück.

Die Hauptfigur darin führt ein Doppelleben. Eine Hälfte ist gut, die andere böse.

der Streckenwart war bei der Eisenbahn

wir wissen jetzt seinen Beruf. Es ist ein untergeordneter Posten

 

Hier endet die Einleitung. Sie gibt sich vom äußeren Anschein her wie die Exposition einer Moritat „Leute höret die Geschichte“, und stellt den Protagonisten vor. Und zwar so, dass wir auf eine falsche Fährte gelockt werden. Für Eingeweihte folgt dann verschlüsselt eine subversive Schlussfolgerung, für alle anderen dürfte es eine Nebelkerze sein. Die eigentliche Aufgabe einer Moritaten-Exposition (eine klare Ansage) wird im einen wie im andern Fall unterlaufen.

2. Strophe

Der Nebel steigt vom Schotter auf

Nebel: feucht, klamm
Schotter: hässlich, grau, keine Naturlandschaft

steigt – Schotter
Alliteration

gefolgt von: Schicht

Schotter ist nur ein einzelner Bestandteil der Landschaft, den Rest können wir uns dazudenken

und Sezuan aufs Dienstfahrrad zur Sch….icht.

kein Auto, kein Bus – ein Dienstfahrrad: ein Fahrzeug, auf dem er friert und nass wird. Und nicht mal das gehört ihm.
Der Mann tut uns Leid. Er hat einen wirklich miesen Job.

das Wort Dienstfahhrad klingt wie ein Knurren

Sch…icht klingt wie scheiße.

Sein Stellwerk steht auf freier Flur

 

Stellwerk – steht 
freier – Flur
zwei Alliterationen (scht- und fff) phonetisch: Sogar in der Sprache zieht’s. Und das schon sei Beginn der Strophe.

salpeterwändig

wenn der Salpeter ausblüht, ist die Bude feucht und kalt, das Baumaterial ist minderwertig (und krank macht es wahrscheinlich auch) Unser Mitleid für Sezuan steigert sich noch

 

riecht es drin nach Pflicht.

er hasst seinen Job

riiiecht – drin – Pflicht:
ein einziges iiih des Ekels.
Pf-licht klingt wie ausgespuckt

Er schnauzt nach seinem Vorstehhund

nett ist er zu seinem Hund nicht

Wortspiel:
Schnauzer

der steht ihm in nichts nach

 

Vorstehhund – steht nach
noch ein Wortspiel

und beißt ihm prompt den Daumen wund

Sogar der, der in der Hackordnung eigentlich unter ihm stehen müsste, greift ihn an.

 

– so geht das jeden Tag

Das ganze Leben von diesem armen Kerl ist so. Unser Mitleid ist kaum noch zu steigern.

gesungen: Taaach

geeht  – jeeden
auch phonetisch zieht es sich in die Länge

draußen auf dem Schienenstrang
im Stellwerk 13 bei der Eisenbahn.

Strang lässt an Strick denken, Selbstmord.

13 – die Unglückszahl. Das Unheil wirft seinen ersten Schatten voraus (typische Moritatenstilistik)

Schienenstrang: Alliteration im Wort, dann noch Stellwerk Sch – Sch – Sch

regelmäßig auf die Musik verteilt: das Eisenbahngeräusch

Die große schäbige Landschaft mit einem kleinen schäbigen Punkt, der näher kommt und sich an einen schäbigen Arbeitsplatz begibt.

 

Die Kamerafahrt: von fern nach nah. Zunächst eine Totale auf die schäbige Landschaft mit Sezuan von fern, dann Zoom auf näher kommenden Sezuan mit Hund, erster Einblick in sein Stellwerk. Sezuan ist noch mäßig in Bewegung. Das ganze Drum und dran ist trist.

Der Weichenhebel blinkert matt,

ein minimaler Sinnesreiz. Wenn man dieses Minimallicht wahrnimmt, ist es drinnen verdammt trüb.

blinkern: fast unmerklicher Lichtreflex –> fingern

Wenn unsere Aufmerksamkeit so auf den Weichenhebel gelenkt wird, dann merken wir uns den. Sollen wir auch. Denn er wird das zentrale Requisit sein

 

poliert mit Bohnerwachs und 40 Watt.

wer den Weichenhebel mit Bohnerwachs poliert, muss sehr viel Langeweile haben

jetzt riecht man das Stellwerk auch. Bohnerwachs stinkt.

 

Der Arbeitsplatz erscheint  immer ungemütlicher. Dementsprechend steigt unser Mitleid mit demjenigen, der es dort Tag für Tag aushalten muss.

 

Die blenden

wie empfindlich müssen seine Augen sein, dass 40 Watt ihn blenden?!

 

Meister Sezuan

Meister Lampe, Meister Petz- hier klingt es wie in einer Fabel. Die Geschichte hat ja auch Fabelcharakter – wie wir später merken werden. Nur anders als wier erwarten

 

der früh um acht schon Langeweile hat

Der Arbeitstag der vor ihm liegt, scheint endlos

 

Jetzt kommt der Zug aus Halberstadt

Halberstadt: Kleinstadt im Harzvorland, in der DDR war dort sowjetisches Militär stationiert

 

und dann der Zug nach Binz.

Binz liegt auf Rügen. Dieser Zug fährt an einen Ort, wo es idyllisch ist

 

Die Fleppe hängt

Fleppe: Eisenbahnsignal (eine Art Kelle; wenn sie waagrecht steht, muss der Zug halten). Fleppe heißt aber auch: Mundwinkel

Fleppe hängt: der Zug fährt durch, ohne dass Sezuan auch nur einen Finger krumm machen muss. Er ist überflüssig.

 

sie fahrn vorbei, drin schwatzen Kunz und Hinz

Hinze-und-Kunze-Roman, Volker Braun,  DDR 1986: Gespräche zwischen dem Funktionär Kunze und seinem Chauffeur Hinze.
Dort wo Sezuan ist, reden sie jedenfalls nicht miteinander. Und keiner redet mit ihm. Er ist allein

 

beachten nicht den Sezuan,
den Streckenwärter bei der Eisenbahn.

er ist nur ein Funktionsträger, der Streckenwärter.

 

Die Kamera: Wir sind im Stellwerk, die Kamera erfasst zunächst ein Detail im Zoom, den Hebelarm (betont ihn dadurch) geht dann auf Sezuan und folgt seinem Blick nach draußen.

Sezuan sehen wir ohne eine physische Bewegung (wohlgemerkt: und das schon zu Dienstbeginn)

3. Strophe

Er taucht den Sieder in den Topf exakt um acht Uhr neun

er zählt die Minuten. Wir ahnen, wie lang ihm der Tag wird

taucht – Topf
Alliteration

zum Kräutertee.

Das war noch nicht die Zeit des Öko-Bewusstseins. Nicht mal einen Bohnenkaffee kann Sezuan sich leisten.

 

Inzwischen nieselt’s,

das Wetter wird noch ungemütlicher

wenn man „niiiieselts ausspricht, verzieht man automatisch das Gesicht

und vom Sitzen hinterm Schaltschrank tut ihm schon der Rücken weh.

Ganze neun Minuten nach Dienstbeginn hat er schon Ermüdungserscheinungen

 

Mählich tropft der Wasserhahn und ebenso die Zeit.

Auch der Wasserhahn im Stellwerk ist alt und kaputt.

Sezuan tut uns zunehmend Leid, dass er an solch einem Platz arbeiten muss

Mählich (altmodisch für allmählich) Moritaten-Ton

Sachte schläft der Fuß ihm ein,

Neun Minuten nach Dienstbeginn verabschieden sich schon erste Körperteile

 

der Feierobnd ist weit.

‚S is Feierobnd: erzgebirgisches Volkslied
Feierobnd sagte man im Volksmund auch zur Pensionierung (Feierobndheim = Altenheim). Sezuan hat noch ein paar Jahre vor sich.

 

Er fingert an dem Hebelarm

fingern: analog zu blinkern: fast unmerkliche Bewegung. „Fingern“ hat zudem etwas Heimliches. Mit welchem Gedanken spielt Sezuan, während er fingert? ….

 

der Weiche 13 von der Eisenbahn.

die Unheilsmetapher wird wiederholt! Moritatenprinzip.

die Häufung von langen ei lässt es hämisch klingen.

Nach dem anfänglichen Teekochen gleitet Sezuan in die völlige Immobilität. Am Strophenende kommt dann der erste Wendepunkt: er hat eine Idee, verdeutlicht durch den Blick der Kamera auf den Weichenhebel, der vorher schon geblinkert hat – jetzt erkennen wir, dass das eine Einladung war – „blinkern“ heißt auch Augenzwinkern)

Oha –

Sezuan wird wach. Wir auch. Er sieht etwas.

 

– da ist der Zug aus Schmölln

Schmölln: thüringische Kleinstadt mit einem Bahnhof an der Strecke von Altenburg nach Gera-. Tiefste Provonz.

 

nach Birmingham

Arbeiterstadt in England, nicht mal ein touristisches Ziel

 

mit Zwischenhalt in Köln.

Köln: Westdeutschland

Dieser Zug fährt über die Grenze ins Ausland

 

Es stinkt ihm,

Der Satz beginnt ehrlich

 

dass man nicht versteht,

und mündet in die Art von (diplomatischer) Kritik, wo man zur Not die Schuld auf sich selber nehmen kann: vielleicht hat man es ja nicht gut genug erklärt. Wenn man Angst vorm Zorn des Gegenübers hat, macht man es so.

In Wirklichkeit stinkt es ihm, dass man ihn nicht reisen lässt.

 

dass er da hätte auch mal hinfahrn wöll’n

Bloß nicht tun, als wäre es wichtig!

wölln – klingt wie die Verkleinerungsform von Wollen, kindlich schmollend

So hockt er, der Geheimnisträger,

Jeder, der bei der Bahn arbeitete, galt als Geheimnisträger und durfte nicht reisen. Bei so einem subalternen Posten wie dem von Sezuan – ein Witz.

 

trägt an seinem Frust.

Sein Frust kann auch das Geheimnis sein. Kaum noch zu steigern, wie sehr wir ihn bemitleiden.

(geheimnis-)träger – trägt
Den Doppelsinn bringt das auf den Punkt

Und plötzlich

und es wird auch nicht gesteigert.

plötzlich ist auch vom Wortklang her ein Signal

überkommt ihn wieder

also nicht zum ersten Mal….  Das lässt tief blicken.

 

die perverse Lust

hier spricht scheinbar der Moritatenerzähler. Sezuan wird – ganz im Sinne der Moritat – pro forma als perverser Lüstling gestempelt, das gibt uns die moralisch einwandfreie Erlaubnis, weiter zuzuhören. Wobei wir insgeheim mit diesem „Bösen“ längst mitfühlen.

 

Er äugelt

blinkert – fingert – äugelt

Die Serie der Zooms wird fortgesetzt.

sprachlich parallele Konstruktion

nach dem Streckenplan:

Was hat er damit vor?

 

Zugroulette spieln mit der Eisenbahn.

Jetzt wissen wir was er vorhat. Die Anspielung zum Russisch Roulett liegt auf der Hand. Die Eisenbahn wird zum Spielzeug, wie eine Modelleisenbahn. Sezuan wird zum Herrscher einer Spielwelt

 

 

 

 

 

 

 

Vergessen ist der Kräutertee,

Das Leben hat mehr zu bieten als fade Getränke

 

dem Sieder glüht die letzte Wendel aus.

auch diese marode Materie gibt ihren Geist auf.

dem Sieder glüht die letzte Wendel aus – Der Mund wird breit, Häme, Schadenfreude. Bei aus ist der Sieder kaputt. Auch klanglich endet der Satz schlüssig

Da surrt der Telegraph,

die „weite Welt“ meldet sich, es kommt Bewegung in den Tag

surrrt der Telegrrraf
man hört es förmlich

und Meister Sezuan

hier wirkt das Wort ganz anders: Meister – plötzlich ist er wer. Vielleicht hat er ja sogar Macht??? Er fühlt sich schon viel besser

 

riecht

 

schon der Klang ist sinnlich; Sezuan kann sich wieder über etwas freuen

einen Leichenschmaus.

hier wird der Begriff wörtlich genommen

die Aussprache bestätigt das: LeiiichenSchmmmaus

In zehn Minuten

die Uhr läuft!

 

Sonderzug mit Panzern vom Ural!

Panzer aus der Sowjetunion. Man muss die Weiche für sie stellen, auch wenn man den Zug mit den Panzern nicht haben will.

alle betonten Vokale sind dunkel, der Klang ist so schwerfällig wie der Zug

Ural: viel eleganter als direkt Sowjetunion zu sagen

Stoppen Sie den Gegenzug

ein Gegenzug – wir ahnen allmählich, worauf es hinauslaufen könnte…

lange Vokale sind helle Klänge, dieser Zug ist harmlos.

aus Oberwiesenthal!“

Dieser Zug kommt aus einem Ort, wo die Welt sich zu Winterfestspielen trifft und wo auch Funktionäre und verdiente Parteigenossen gern mal Urlaub machen. Leute wie unser Sezuan sitzen nicht unbedingt in diesem Zug.
Wenn der Zug aus der Sowjetunion kommt, müssen aber auch die Funktionäre warten.

 

Da grinst der böse Sezuan, der Satansbraten bei der Eisenbahn.

 

Der Moritatenerzähler betont demonstrativ, dass Sezuan der Unhold ist. Das pure Alibi. Und wir wissen es alle.

Die Vokale ziehen wieder den Mund in die Breite und führen den formalen Tadel ad absurdum. Wir genießen die Lust am Bösen….

 

Nun eine Runde Zugroulette,

auffallend beiläufig. Die Katastrophe, die da bevorsteht, ist ausgeblendet. Es wird immer mehr zum Spiel

 

in neun Minuten kommt der D-Zug an.

Das Spiel ist eröffnet und wir werden über die Rahmenbedingungen informiert

 

Der Panzerzug in zehn, mal sehn, ob sich der D-Zug selber retten kann.

Sezuan wird geradezu überheblich. Wenn der D-Zug zu lahm ist, ist er selber Schuld.
übrigens ein kapitalistischer Gedanke: jeder muss es selber schaffen

Diese Passage ist  prallvoll mit Stabreim, Binnenreim und Assonanz. – ebenso wie sich in der Geschichte allmählich die Ereignisse drängen. Der Panzerzug kämpft sich durch, das hört man auch

Panzerzug – Assonanz im Wort; zehn (außerdem Stabreim)
in zehn – mal  sehn
Binnenreim,
sehn ob sich (Stabreim)
der De-Zug (überlappende Assonanz auf e, dazu kommt der Stabreim auf  s) selber – retten (wieder die Assonanz auf e)
alles auf die Viertelbetonungen, es entsteht wieder das Eisenbahngeräusch
Die auffälligen Laute beschränken sich auf e, s und z

Alle Signale grün gestellt, 
das Schicksal wird bemüht

Hier begeht Sezuan die Tat. Aber: Unschuldiger und heiterer kann man sie nicht schildern. Schuld ist im Zweifelsfall das Schicksal. Der Täter hat kein Unrechtsbewusstsein. Hier ist es nur noch Spieltrieb

i und ü – helle, heiter wirkende Laute

und die Scheibe blank geputzt, damit man auch was sieht.

plötzlicher Aktivismus. In so viel (und dazu freudiger) Bewegung haben wir Sezuan im ganzen Lied noch nicht gesehen

Das Stellwerk wird zum Tribünenplatz für das Schauspiel.

Man sieht etwas. Der Täter ist nur noch Teil eines anonymen Spektakels

damit man auch was sieht

Das klingt auch nach Vorfreude

So spielt der Meister Sezuan
Zugroulette mit der Eisenbahn.

 

Hier ermahnt uns wieder der Moritätensänger (mit einem Unterton von „Das macht man doch nicht“)
Keiner nimmt das hier noch ernst. Wir fiebern mit Sezuan. Und es ist uns schnuppe, dass er inzwischen als der Böse dargestellt wird

 

 

In dieser Strophe ist der Höhepunkt von Sezuans Aktivität erreicht.

Wenn der D-Zug pünktlich ist, dann hat er eine ganz reelle Chance.

Ein Spieler kalkuliert kühl seine Chancen

 

Von weitem heult der Panzerzug schon,

Die Gedanken werden unterbrochen. Die erste Ankündigung ist akustisch. Wir sehen noch nichts

 

Sezuan denkt kribblig: „Vielleicht langt’s!“

es kribbelt., Aufgeregt ist er aber Angst hat er nicht.

 

Der Oberwiesenthaler kommt zwar jeden Tag zu spät.

Der D-Zug müsste draufgehen, weil er immer unpünktlich ist

 

Doch heute hat er Rückenwind

Er könnte es aber ausnahmsweise schaffen

 

– das heißt, wenn der nicht dreht.

oder doch nicht

 

 

Ein typischer Spieler. Fieberhaft versucht er zu berechnen was man nicht berechnen kann, wobei das Spiel schon läuft.

 

Und dreht er, komm ich halt in’n Kahn –

die klassische Situation eines Zockers, der gerade dabei ist, seine ganze Existenz zu verspielen –

Kahn = Gefängnis

besser noch als ewig bei der Eisenbahn.


und das Risiko beschönigt.

Außerdem noch mal ein Hinweis, wie erbärmlich der Posten bei der Eisenbahn ist.

 

Die ganze Strophe spielt in den Gedanken von Sezuan. Äußerlich ist alles regungslos – die Ruhe vor dem Knall. Als einziger Sinnesreiz erreicht ihn das Heulen des Panzerzugs.

 

Mit 130 rast der Ex, noch anderthalb Minuten bis zum Ziel.

Die Kamera hat den Personenzug im Bild

 

Der Panzerzug rollt langsamer, denn fünfzig Panzer sind kein Pappenstiel

Bildschnitt zum Gegenzug

auch die Musik macht den Panzerzug mit.
lang-sa-mer – sogar die Betonung schleppt

Alliteration auf P

Das Wetter hört zu nieseln auf, und die Sonne späht

Die Natur wird personalisiert. Wetter und Sonne werden vorfreudige Zuschauer.

 

 

Die dramatische Handlung läuft. Züge rasen der Kollision entgegen. Hitchcock’scher Kunstgriff, zur Spannungssteigerung: etwas ganz anderes zeigen, während wir wissen, dass das Unheil seinen Lauf nimmt.

Und gleich noch mal:

 

Ein Rabe plustert sich und sperrt den Schnabel auf und kräht.

Rabe: Unglücksvogel.
Plustert sich: auch er macht sich bereit für das Ereignis, erwacht zu Aktivität.
Gekräht hat der Hahn, als Judas Jesus seinem Schicksal auslieferte

Schnaaabel – kräht
Lautmalerei

Und Sezuan im Spielerwahn

der Moritatenerzähler versucht noch mal einen kleinen Einwurf. Niemand hört ihm zu.
Das Geschehen ist viel zu spannend.

 

starrt fasziniert auf seine Eisenbahn.

wie ein kindlicher Gott. Die Realität ist ein Spielzeug und Sezuan hat die Macht
(seine Eisenbahn)

 

Von beiden Seiten rasen nun
die Züge einer auf den andern zu.

Die Kamera in der Vogelperspektive. Neutral.

 

Der Streckenwart ist aufgeregt,

Schnitt zum Täter. Der aber als Funktionsträger (Streckenwart) gezeigt wird (ent-personalisiert)

 

er fiebert, und die Socke kocht im Schuh…

 

was für ein Bild!

Rien ne va plus ….

 

gleich entscheidet sich alles. Die Kontrolle ist ihm genommen.

 

hier folgt ein Instrumentalteil.
Die Kugel rollt. Atemlose Spannung

 

Und nun muss es doch knallen!

 

Es knallt aber immer noch nicht.

 

Die Züge rasen immer noch im Tempo unvermindert aufeinander los

Noch mehr Spannung scheint unmöglich, da wird noch (augenzwinkernd und demonstrativ auf entbehrlichen Worten) ein musikalischer Halbtakt eingeschoben.

 

Ahnungslose Kinder winken,

Die Kamera zoomt unerwartet auf ein unschuldiges Detail. Wir fahren förmlich zusammen:

Aaaaahnungslos / Kinder
zwei emotionale Reizwörter.

Sezuan, den würgt im Hals ein Kloß.

Der Spieler begreift schlagartig, was er da eigentlich gemacht hat

 

Der Ex erwischt die Weiche knapp vor dem Panzerzug,

Es ist noch einmal gut gegangen

 

und nur ein einsam‘ Panzerrohr

Moritatensprache. Einsam‘ ist eine antiquitierte Apostrophierung, die aus einer Moritat entlehnt scheint.

 

ins letzte Fenster schlug

Satzverdreh – auch Moritatensprache

 

Erleichtert setzt sich Sezuan

kurz, knapp, sachlich. Der Kitzel ist vorbei

 

auf seinen Inventarstuhl

das Pendant zum Dienstfahrrad. Sezuan ist wieder der kleine Bahnbedienstete

 

bei der Eisenbahn.

 

 

Und Hinz und Kunz im Ex, die fläzten beide locker plaudernd im Coupé
und ahnten wie die tausend andern nichts  von dem gewagten Zugroulé.

Sezuan ist nicht mehr interessant. Die Kamera schwenkt zu den potentiellen Opfern

 

Und wie der böse Sezuan

Moritaten-Alibi-Sprache

böse könnte auch im Sinne von „zornig“ gebraucht sein – dann würde die Aussage zu einer Warnung

sein Mütchen hat gekühlt,

Satzverdreh, moritatenhaft

 

so hat man auch mit unserm Leben schon Hasard gespielt.

nebulös. Wessen Leben?
Das der DDR-Bürger? Das der kleinen Leute aller Länder? Wir haben viele Interpretationsmöglichkeiten – es bleibt offen – was sicher kein Zufall ist.

 

Es könnte ja auch (leicht verklausuliert) das Leben der Funktionäre gemeint sein. Wenn der kleine Mann böse wird, weil man ihn so schlecht behandelt, dann kann es den sich fläzenden Passagieren in den Zügen ungemütlich werden.

Hasard (frz. Zufall): ein Sammelbegriff für riskantes Glücksspiel. Hasard wird mit Würfeln gespielt

Doch das Gute ist daran:
wir wissen’s nicht – wie bei der Eisenbahn..

Das ganze Lied sagt:
Und ob wir es wissen!

 

 

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