Risikobereitschaft – Feindlers Wort zum neuen Jahrzehnt

Eingestellt von Turid Müller

Das aktuelle Monatsgedicht gibt uns den Wunsch zu Besonnenheit mit auf den Weg.

 

Was werden wir aus dem neuen Jahrzehnt machen? fragt Michael Feinder. Und: Was werden die künftigen politischen Debatten bringen? Werden wir es lernen, „demokratisch notwendige“ von denen zu unterscheiden, die „überflüssig“ sind? Oder machen wir weiter wie bisher?

„Welche dieser beiden Optionen die größeren Risiken birgt, hängt vom konkreten Fall ab. Es soll ja sogar Fälle geben, in denen die unbedingte Beibehaltung eines Status quo diesen Status quo erst recht gefährdet.“ Im Gedicht geht es folgerichtig um „gesunde und ungesunde Formen von“:

 

Risikobereitschaft

 

Du hast mir häufig imponiert
mit Deinem Hang zum Risiko.
Da hab ich manchmal Neid verspürt,
noch öfter dachte ich: „Chapeau“,

 

weil ich mich selbst so wenig traute,
zumal ich das Spontane mied
und gern auf die Statistik schaute,
bevor ich irgendwas entschied.

 

Statt mich, wie Du, ins Abenteuer
zu stürzen und mal viel zu wagen,
war mir das nie so ganz geheuer
und ständig hörtest Du mich fragen:

 

„Was tust Du, wenn Dir was passiert?“
Dann kamst Du nachher grinsend an
und meintest: „Hat ja funktioniert.“
Das ändert aber nichts daran,

 

dass ich inzwischen klar erkenn:
Es ist bescheuert, was Du machst.
Das sag ich Dir persönlich, wenn
Du aus dem Koma noch erwachst.

Ernst Neubach im Porträt

Von Claudia Karner (Celler Schule 2006)

Ein Lied geht um die Welt… 1933 gelang dem Textdichter Ernst Neubach ein genialer Wurf. Er schuf gemeinsam mit dem Komponisten Hans May einen Jahrhundert-Hit, der den Tenor Joseph Schmidt unsterblich machte. Die Premiere des gleichnamigen UFA-Tonfilms fand am 9. Mai 1933, einen Tag vor der Bücherverbrennung, in Berlin statt. In der Übersetzung My Song Goes Round The World eroberten Lied und Film ein Jahr später den englischen Sprachraum. Heuer jährt sich der Geburtstag von Ernst Neubach, der in späteren Jahren auch eine beachtliche Karriere als Regisseur und Filmproduzent machte, zum 120. Mal. Grund genug, wieder einmal ganz tief ins Archiv zu tauchen.

ICH HAB’ MEIN HERZ IN HEIDELBERG VERLOREN

Ernst Neubach wurde am 3. Januar 1900 als Sohn des jüdischen k. u k. Eisenbahnbeamten Albert Neubach und dessen Frau Marie in Wien geboren. Er besuchte die Volks- und Bürgerschule sowie die Handelsakademie. Nach einem vierwöchigen Einsatz im 1. Weltkrieg im Frühjahr 1918 wurde er für untauglich erklärt und schlug sich als Plakatierer durch, ehe er seine ersten Kabarett- und Schlagertexte verfasste. Für das Singspiel Ich hab‘ mein Herz in Heidelberg verloren, das Fred Raymond (bürgerlich: Friedrich Raimund Vesely) 1927 komponierte, schrieb Neubach zusammen mit Fritz Löhner-Beda das Libretto und die Liedtexte. Das titelgebende Lied wurde ein Ohrwurm, von dem auch fast 100 Jahre danach noch die Heidelbergische Touristikwerbung profitiert. Der gleichnamige Film mit Adrian Hoven in der Hauptrolle folgte erst 1952.

HEUT’ IST DER SCHÖNSTE TAG IN MEINEM LEBEN

Neubach pendelte in den 1920er Jahren zwischen Berlin, Wien, München und Amsterdam und trat auch als Conferencier auf, u. a. im Wiener Simpl. Über seine Schlagertexte fand er Kontakt zum Tonfilm und schrieb seine ersten Drehbücher. 1932 lernte er den Tenor Joseph Schmidt kennen, mit dem ihn eine lebenslange Freundschaft verbinden sollte. Nach Ein Lied geht um die Welt folgte 1936 der zweite Mega-Erfolg, Heut’ ist der schönste Tag in meinem Leben. In dem gleichnamigen Film unter der Regie von Richard Oswald spielte und sang Schmidt eine Doppelrolle, darunter auch das Lied Es wird im Leben dir mehr genommen als gegeben. Hans May und Ernst Neubach waren ein kongeniales Duo. Von ihnen stammen auch die Evergreens Ein Stern fällt vom Himmel undIn einer kleinen Konditorei.

DU BIST DAS SÜSSESTE MÄDEL DER WELT

Ein weiterer Schlager ist Nostalgikern bis heute im Ohr geblieben: Du bist das süßeste Mädel der Welt aus dem Film Liebeswalzer (Musik: Werner Richard Heymann).Ob Neubach sich beim Schreiben des Textes von seiner Frau Helene, einer ehemaligen Schönheitskönigin, hat inspirieren lassen? 1938 waren die beiden gezwungen, die Flucht vor den Nazis anzutreten. Auf abenteuerliche Weise kamen sie über die Schweiz nach Frankreich, wo sich Neubach für die Fremdenlegion verpflichtete. Das Kriegsende erlebte er in der Schweiz, seine Frau in Paris. Seine Erlebnisse sind in dem Buch Flugsand. Dokumentarischer Roman eines Heimatlosen festgehalten. Noch dramatischer verlief die Flucht seines älteren Bruders Robert, der Schauspieler und Theaterregisseur war. Er wurde ins KZ Auschwitz deportiert, wo er 1943 starb. Schwester Alice konnte mit ihrem Mann nach New York emigrieren.
Ab 1945 lebte Neubach wieder in Frankreich. Dort arbeitete er als Filmregisseur, Drehbuchautor und Produzent unter dem Namen Ernest Neuville und drehte u. a. mit Fernandel das Psychodrama Le signal rouge. Seine Ehe war mittlerweile zerbrochen. Nach der Scheidung heiratete er die Schweizerin Margarete Jenni und wurde Vater von Tochter Christine.

IM HIMMEL GIBT’S KEIN BIER

Anfang der 1950er Jahren gelang es Neubach, in Deutschland in der dortigen Filmszene Fuß fassen. 1958 gründete er in München die Neubach-Film GmbH und produzierte meist nicht sehr anspruchsvolle, aber kommerziell erfolgreiche Heimat- und Schlagerfilme. Das Publikum liebte die unbeschwerte Unterhaltung der Nachkriegsjahre, wie Die Wirtin von der Lahn, Ich hab’ mein Herz in Heidelberg verloren und Die Fischerin vom Bodensee boten. Aus letzterem Film stammt das Lied Im Himmel gibt’s kein Bier (Musik: Ralph Maria Siegel), zu dem auch heute noch in Bierzelten gern geschunkelt wird.
Mit dem Film Ein Lied geht um die Welt (Die Joseph Schmidt- Story) setzte er dem jüdischen Tenor, der 1942 an einem nicht erkannten Herzleiden in einem Schweizer Internierungslager im Alter von 38 Jahren starb, ein cineastisches Denkmal. Die Kritik lobte zwar die schauspielerische Glanzleistung von Hans Reiser in der Rolle von Schmidt, der finanzielle Erfolg hielt sich in Grenzen.
Apropos Ein Lied geht um die Welt: Dem Textdichterkollegen Kurt Feltz ging wohl der Refrain nicht aus dem Kopf und er wandelte bei der deutschen Übersetzung von Charlie Chaplins Lime Light Theme die ersten zwei Zeilen Ein Lied geht um die Welt, ein Lied, das euch gefällt ungeniert in Eine Melodie geht um die Welt, eine Melodie, die mir gefällt um. Neubach zog vor Gericht und gewann den Plagiatsprozess gegen Feltz.
Sperrbezirk
war 1966 die letzte Filmproduktion. Darin verewigte sich Ernst Neubach in einer kleinen Rolle. Zwei Jahre später, am 21. Mai 1968, starb er im Alter von 68 Jahren in München. Seine Grabstätte ist unbekannt.