Von Claudia Karner (Celler Schule 2006)
„Hast du etwas Zeit für mich? Dann singe ich ein Lied für dich von 99 Luftballons auf ihrem Weg zum Horizont…“ 1983 traf Carlo Karges mit diesem Song, der die Neue-Deutsche-Welle-Band Nena an die Spitze der heimischen und internationalen Charts katapultierte, den Nerv der Zeit. Eine Erinnerung an den Gitarristen und Texdichter, der am 31. Juli seinen 70. Geburtstag begangen hätte.
WER SCHMETTERLINGE LACHEN HÖRT
Carlos Karges, geboren am 31. Juli 1951 in Hamburg, träumte schon als kleiner Junge von einer Musikerkarriere. Mit 20 wurde er Gitarrist und Keyboarder bei der Hippie-Band Novalis an, für die er das romantische Gedicht „Wer Schmetterlinge lachen hört, der weiß, wie Wolken schmecken“ schuf, das oft fälschlicherweise dem Dichter Novalis zugeschrieben wird, nachdem sich die Gruppe benannt hatte. Das Lied ist vergessen, die erste Zeile lebt heute als Kalender- und Wandtattoo-Spruch weiter. Nach einem kurzen Gastspiel bei der NDW-Band Extrabreit lernte er 1982 die Sängerin Susanne Gabriele Kerner, genannt Nena, kennen, die gerade dabei war, mit ihrem Freund, dem Schlagzeuger Rolf Brendel, eine neue Musikgruppe zu gründen und einen Gitarristen suchte.
99 LUFTBALLONS
Als die Rolling Stones am 8. Juni 1982 in Berlin ein Open Air-Konzert in der Waldbühne spielten, wurden am Ende der Show Tausende Luftballons in den Nachthimmel geschickt. Was wäre wohl, wenn die Luftballons in die DDR rüberfliegen würden? dachte sich Carlo Karges, einer der 22.000 Konzertbesucher. Könnten sie für atomar bestückte Flugojekte gehalten werden, die einen militärischer Gegenschlag zur Folge hätten? Er spann diese verrückte Idee weiter und textete einen Song, zu dem sein Bandkollege Uwe Fahrenkrog-Petersen die Musik komponierte. „Carlo, das ist das Beste, was du je geschrieben hast“, meinte Nena begeistert, obwohl es die Plattenfirma ganz anders sah. Es fehle der Refrain, es gäbe keine richtige Hookline. Und mitsingen könne man auch nicht. Was für ein Glück, dass sich Nena gegen die Plattenbosse durchsetzte.
IRGENDWIE, IRGENDWO, IRGENDWANN
Brendel schwärmt noch heute über seinen Freund und Bandkollegen: „Carlo war ein Rockpoet, der es verstand, Texte zu schreiben und Musik zu komponieren, die einen sofort mit auf eine Reise nehmen.“ Aus Carlos Feder flossen noch weitere erfolgreiche Songs: “Irgendwie, irgendwo, irgendwann”, aus dem die wunderbare Zeile „Liebe wird aus Mut gemacht“ stammt, “Rette mich” und Vollmond“. Nach fünf Jahren ging die beispiellose Erfolgsgeschichte zu Ende. Die Musiker waren ausgebrannt, das vierte Album lag bleischwer in den Regalen, die Band löste sich 1987 auf. Für Carlo begann eine unaufhaltsame Talfahrt. Wie hatte er es nur geschafft, in kürzester Zeit ein Millionenvermögen durchzubringen? „Nun, das ist ganz einfach. Man braucht nur einen ausgeprägten Hang zum süßen Leben, ausreichend Verschwendungssucht, ein übersteigertes Ego, wirtschaftliches Unvermögen und ein paar schlitzohrige Finanzberater“, so beschrieb es Rolf Bendel in dem Buch “Nena – Geschichte einer Band“. Dazu kamen auch noch immense Steuerschulden. Carlo versuchte, sich ein zweites Standbein neben der Musik zu schaffen. Aber auch das ging schief. Das Café Carlo, ein Musikcafé in Berlin, musste er nach einem Jahr wieder zusperren. Die Kundschaft war ausgeblieben, er selbst sein bester Gast geworden. Seine Band “Café Carlo” blieb ebenfalls erfolglos. Als die Plattenfirma Sony seine neuen Projekte ablehnte, schickte Karges erbost dem Chef ein Paket mit all seinen Gold- und Platinplatten, die er zuvor in Stücke gehackt hatte. Und dann zerkrachte er sich auch noch mit Nena.
ICH BIN DIE LIEBE
1994 zeigte der einstige Star aber noch einmal, was er konnte, schrieb nach seiner Versöhnung mit der Sängerin für ihr Soloalbum “Und alles dreht sich” zwei Titel („Vor deiner Tür“ und “Ich bin die Liebe“) und arbeitete 1996 als Texter am ZDF-Soundtrack-Album “Nena und die Bambusbären-Bande” mit. In den darauffolgenden Jahren kriegte er aber nichts mehr auf die Reihe. Er spielte bei unbedeutenden Bands und ertränkte seinen Frust im Alkohol. Am 30. Januar 2002 starb Carlo Karges im Alter von 51 Jahren in Hamburg an Leberkrebs und wurde im Urnenhain am Friedhof Ohlsdorf anonym beigesetzt. Am 31. Juli 2021 hätte Carlo seinen 70. Geburtstag gefeiert.
“Hab‘ ’nen Luftballon gefunden. Denk‘ an dich und lass‘ ihn fliegen…”
Fotonachweis: Die Fotos stammen aus dem Buch „Nena – Geschichte einer Band“ von Rolf Brendel, das Carlo Karges gewidmet ist. Das Porträtfoto hat Jim Rakete gemacht.